Andrea Feder
Ein Hund der Sprachlosigkeit

Schön war der Urlaub gewesen. Schön, aber mal wieder zu kurz! Nur noch eine Woche und es geht zurück ins frostig kalte Deutschland. Zeit, die Souvenirs zu kaufen für die Hundesitter daheim, ohne die die Flugreise nach Korinthos nicht möglich gewesen wäre.

Wir fahren mit unserem Mietwagen Richtung Innenstadt. Die Straße ist staubig und es ist glühend heiß. Mein Blick geht zum Beifahrerfenster hinaus. Da sehe ich sie am Straßenrand liegen. Wie automatisch trete ich aufs Bremspedal und halte rechts an. Ich steige aus und schaue zum ersten Mal in ihre Augen. Ihr Blick durchfährt meinen Körper wie ein Blitz und ist in Sekundenschnelle im kleinen Zeh angekommen. An den hilflosen Augen hängt ein extrem magerer Hundekörper mit spärlichem Fell, dessen Wuscheligkeit sich nur erahnen lässt. Riesige kahle Stellen offenbaren eine schuppige Haut. Eine schlaffe Pfote versucht durch Kratzen des Ohres die dreiste Blutrünstigkeit der Stechmücken zu überlisten.

„Eh, Mädchen, dies ist ein schlechter Platz zum Ausruhen! Komm steh auf“ Sie kann es nicht. Der Anblick versetzt mich in Sprachlosigkeit. Ich möchte heulen. Doch selbst dazu fehlen mir „die Worte“. Kurz entschlossen lade ich sie ein, um sie dem griechischen Nachbarn und Tiersschützer zu geben. Mehr als der Dienst der Erlösung wird von Seiten des Tierarztes wohl nicht möglich sein. Meinen Einkauf habe ich komplett vergessen. Schnell wende ich den Wagen und fahre zurück. Bei jeder Gelegenheit schaue ich besorgt in den hinteren Teil des Wagens. Was mag sie haben? Ist sie nur alt und schwach? Ist sie vor ein Auto gelaufen? Wo kommt sie her?

Es ist heiß im Auto, sehr heiß. Mir stehen die Schweißperlen auf der Stirn, obwohl ich frisch geduscht ins Auto gesprungen war. Meine Sorge steigt. Seit der letzten Kreuzung hebt sie den Kopf nicht mehr. Fische Luft, sie braucht frische Luft, schießt es mir durch den Kopf. Schnell will ich die Fenster hinunterkurbeln. Mist, dass man sich bei den Mietwagen so wenig auskennt! Jetzt habe ich es endlich geschafft: Ein warmer Wind durchzieht das Auto, gefolgt vom Duft des nahen Meeres. Ich bin froh, als ich einen tiefen Seufzer des Hundes vernehme, und fahre ein wenig gelassener weiter.

Im Ferienhaus angekommen, rufe ich sogleich Helena an. Wenig später steht sie mit ihrem Transporter vor der Tür und hört sich mein vermeintliches „Shopping-Erlebnis“ an. Wir laden zu zweit den schlappen, mageren Hundekörper in Helenas Auto. Das Fell – zumindest das bisschen, was noch da ist – ist strohig und schmierig. So richtig weiß ich nicht, wo ich zufassen soll. Ich fühle nur Haut und Knochen. Helena verspricht mir eine Rückmeldung, wenn Fillipos mit der Hündin beim Arzt war. Fassungslos schaue ich der Staubwolke von Helenas Transporter nach, als er die Einfahrt verlässt. Meine Hände wollen das Gefühl des mageren Körpers nicht loslassen. Das war’s nun mit den Einkäufen. Der Mietwagen muss in einer Stunde zurück sein. Was soll‘s! Ich hätte jetzt eh keinen Nerv mehr zum Shoppen gehabt.

Drei Tage später fahre ich zu Helena und Fillipos. Ich muss endlich wissen, was aus der Hündin geworden ist. Seit der Begegnung mit ihr geht sie mir nicht mehr aus dem Sinn. Was rührte mich so: Ihr flehender Blick? Ihre traurigen braunen Augen? Ihre Hilflosigkeit? Erstaunt und freudig zugleich sehe ich die Hündin bei Helena und Fillipos auf einer Decke in der kleinen Küche liegen. Hier drinnen ist es angenehm und kühl. Die Horde Katzen, welche um Helenas Beine streichen, interessiert sie nicht.

Gespannt lausche ich den Aussagen unserer Freunde: Es bestehe kein Grund, die Hündin einzuschläfern. Gut, die Jüngste sei sie nicht mehr, habe kleine Wehwehchen hier und da, aber sonst hätte der Tierarzt des kleinen griechischen Dorfes nichts finden können.

Sie habe keine Brüche, wie befürchtet, und sei offensichtlich nicht angefahren worden. Daher hätte man beschlossen, ihr ein paar Tage Ruhe in der kühlen Küche zu lassen und abzuwarten.

Ich schaue ihr ein zweites Mal in die Augen. „Nein“, sage ich zu mir. „Du hast schon drei!“ – Aber … dein Pflegeplatz für den Tierschutzverein ist derzeit noch frei. Dort würde nach Rückkehr eh ein neuer Schützling einziehen, springt es mir förmlich aus den Augen des Hundemädchens entgegen. Meine letzte Unentschlossenheit wird besiegt, als die Hündin aufsteht und auf mich zuwankt. Sie war wieder auf ihren eigenen vier Pfoten!

Drei Tage später sitze ich im Flugzeug mit nur einem Souvenir. Was daheim folgt, sind Wochen der Höhen und Tiefen und viele schlaflose Nächte, vor Angst, dass sie doch eines Morgens tot sein würde. Kurzen Lichtblicken – als sie sich zum ersten Mal zur Familie legt und nicht ins hinterste Eckchen verkrümelt – , folgt der nächste gesundheitliche Einbruch, einer in der Kette von vielen.

Tapfer erträgt die Hündin, was zu ihrer Genesung beitragen soll. Alle drei Tage muss sie gebadet werden, um ihrer geschundenen Haut wieder zur Regeneration zu verhelfen. Die reichlichen Tablettengaben findet sie natürlich am besten: Wer bekommt schon so viele Würstchen mit Inhalt? Und selbst die Verabreichung der Ohrentropfen und der Aufbauspritzen, die ich alle zwei Tage selbst setze, sind kein Problem. Ich brauche sogar niemanden zum Festhalten dabei und sie hat auch nie nach mir geschnappt. Sie wufft nicht einmal. Ihre Stimme bekommen nur meine Hunde zu spüren. Knurren kann sie wie ein Berglöwe und es gibt nach wie vor deftige Auseinandersetzungen mit ihren Artgenossen, bis sie versteht, dass bei uns jeder Hund jeden Tag sein Futter und seine Streicheleinheiten bekommt, egal ob als Erster oder als Vierter, und dass man hier nicht mehr kämpfen muss, um zu überleben.Der weitaus unangenehmere Teil sind eine Vielzahl von Tierarztbesuchen mit den entsprechenden Rechnungen, die uns auch immer wieder die Sprache verschlagen. Sieben eitrige verfaulte Zähne, vereiterte Ohren, Milbenbefall mit Folgeerscheinungen – nichts wurde je zuvor behandelt – sind nur wenige Beispiele ihrer „kleinen“ Wehwehchen, die der medizinischen Pflege bedürfen.

Meine griechische Hündin hat mich immer wieder sprachlos gemacht. Ich war sprachlos, als sie mir zum ersten Mal deutlich mitteilte: „Leine? Gut, ich komme mit.“ Ich war sprachlos, als sie trotz ihrer Magen-Darm-Probleme ihre ersten fünfhundert Gramm zugenommen hatte. Ich war sprachlos, als endlich ihr Fell nachwuchs. Ich war sprachlos, als sie meinte, die Leckerlidose sei eine Selbstbedienungstheke. Ich war sprachlos, als sie zaghaft versuchte zu wedeln, anstatt ihre Rute schlaff hängen zu lassen. Ich war sprachlos, als sie begann, sich mit einem freundlichen, huskytypischen Gesang zu Wort melden anstatt zu grummeln.

Und heute – heute konnten sich erstmals meine Augen mit Tränen füllen. Tränen der Freude und Erleichterung. Zum ersten Mal sprintete sie auf Zuruf mit dem restlichen Hunderudel quer durch den Garten, um ihren Futternapf entgegenzunehmen. Ein Hund, der damals nicht mehr in der Lage war aufzustehen, sagt heute mehrmals täglich mit einem einzigen Blick: Danke, dass du mich nicht aufgegeben hast!

© Andrea Feder

erschienen im Hundejahrbuch 1 des Mariposaverlags